Deutschdidaktik Primarstufe

Hören ist der vernachlässigte Sinn, nicht nur im Deutschunterricht. Das ist deshalb erstaunlich, weil gerade in der Einschulungsphase fast das gesamte Unterrichtsgeschehen über das Sprechen und Hören läuft: Die Lernenden können noch nicht oder nur wenig lesen und schreiben. Ein Blick in Lehrpläne und Lehrmittel zeigt, dass dort, wo gezielt an Hörkompetenzen gearbeitet wird, häufig Hörverständnisübungen im Zentrum stehen. Schülerinnen und Schüler werden mit einem Hörtext konfrontiert und müssen diesen sinnverstehend verarbeiten. Das stellt Lehrpersonen vor die Schwierigkeit, den Hör- und Verstehensprozess seitens der Lernenden sichtbar zu machen. Wie dies in einem Lernprozess mit viel formativen Rückmeldungen schrittweise umgesetzt werden kann, habe ich mit Lehrpersonen in einer Praxisbroschüre festgehalten.

In diesem Blogbeitrag geht es um etwas anderes: Hören umfasst mehr als Textverständnis in auditiv-vermittelten Hörproben. Wer Kompetenzen im Hören und Zuhören trainiert, wird handlungsfähiger und erweitert dadurch nicht nur seine eigenen Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen. Wer (Zu-)Hörkompetenzen erweitert, erlebt einen vergrösserten Handlungsspielraum und kann dadurch auf die auditive wahrnehmbare Umwelt ein- und zurückwirken. Mechthild Hagen hat diesem Umstand mit ihrem Höhrhandlungsmodell (2003) Rechnung getragen. Hagens Modell steht im Zentrum dieses Beitrages.

Das Hörhandlungsmodell nach Hagen

Als Mechthild Hagen 2012 nach schwerer Krankheit verstarb, hatte ihr 2003 als Dissertation vorgelegtes ‚Handlungsmodell zur Förderung des Hörens und Zuhörens‘ deutschlandweit bereits in zahlreichen ‚Hörclubs‘ Niederschlag gefunden. Diese Resonanz blieb im schulischen Praxisfeld der Schweiz aus und auch aktuelle Deutschlehrmittel nehmen weder im didaktischen Kommentar noch in ihren Interventionen erkennbaren Bezug auf Hagen.

Mechthild Hagens Modell unterscheidet zwischen einer Eindrucks- und einer Ausdrucksseite im Hörprozess und verschränkt somit Hören als rezeptive kognitive Fähigkeit mit produktiven (Sprach-)Handlungen. Es entfaltet sich ein zyklischer Prozess, der Hörkompetenzen als das sieht, was sie sind: Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auditive Eindrücke sinnverstehend und sinnkonstruierend aufzunehmen, reflexiv zu verarbeiten und auf die Welt, welche diese Sinneseindrücke hervorbringt, zurück zu wirken.

Im unten stehenden Video führe ich durch das Hörhandlungsmodell nach Hagen und veranschauliche an mehreren möglichen Unterrichtsbeispielen, wie fächerübergreifend mit Hagens Modell gearbeitet werden könnte:

Das Hörhandlungsmodell nach Mechthild Hagen

Hören und handeln in einer Kultur der Digitalität

Heutige Lernende wachsen auf in einer Kultur der Digitalität. Sie machen auditive Erfahrungen, die ihren Grosseltern so noch verwehrt waren. Kinder experimentieren bereits im Vorschulalter mit interaktiven Bilderbüchern, sie hören digitale Kinderhörspiele, sie erkennen die unterschiedlichen auditiven Klangsignale des Mobiltelefons der Eltern und haben die eigene Stimme in Videoaufzeichnungen oder Sprachmemos gehört, welche die Eltern von ihnen aufgezeichnet haben, um sie im familiären Kreis zu teilen. Kinder kennen nicht nur zeitgenössische technologische Geräusche, die es vor fünfzig Jahren noch nicht gab, sondern sie werden schon früh Teil einer digital vermittelten Kommunikationswelt. Diese hinterlässt nicht einfach oberflächliche Spuren im Alltag Heranwachsender, sondern prägt unter anderem auch den Hörhorizont, die Hörerwartungen und das antwortende Hörhandeln.

Hagens Hörhandlungsmodell berücksichtigt über die Grössen des kulturellen und sozialen Hörraums nicht nur diese veränderbaren Audiotechnologien sondern über die Ebene des Hörhandelns auch die damit einhergehenden Praxen.

Im ersten Umsetzungsbeispiel im Erklärvideo (oben) nutzen Schüler·innen z. B. eine App, um Vogelstimmen in ihrer Umgebung aufzuzeichnen und zu identifizieren. Der Algorithmus analysiert das Klangmuster, gleicht ab mit einer wachsenden Bibliothek einheimischer Vogelstimmen und hilft, den entsprechenden Singvogel zu bestimmen. Die App stellt weitere Aufnahmen zur Verfügung, die es erlauben, den eigenen Hörhorizont im Erkennen von Vogelstimmen selbständig zu trainieren. Im digitalen Feldbuch kann eine eigene Klangsammlung erstellt und verwaltet werden. Schüler·innen können die OpenStreetMaps nutzen, um den Standort ihrer Vogelstimmenaufnahmen zu markieren. So entsteht eine gemeinschaftlich erstellte Karte, an der sich beliebig viele andere Nutzer·innen mitbeteiligen können. Lernende, die sich auf diese Weise mit der Vogelwelt vertraut machen, bauen Kenntnisse auf und erweitern ihren Hörhorizont. Klangen vorher alle Vogelrufe wie diffuses Gezwitscher, verbinden kompetente Hörer·innen jetzt konkrete Vorstellungen mit einzelnen Vogelstimmen. Daraus resultiert eine höhere Sensibilität für die Fauna und im Einzelfall vielleicht auch ein persönliches Engagement für den Schutz und Erhalt des einheimischen Vogelbestandes.

Im zweiten Beispiel wäre denkbar, dass Schüler·innen einen Raspberry Pi mit Geräuschsensoren nutzen, um den Geräuschpegel im sozialen Hörraum des Klassenzimmers aufzuzeichnen. Fächerübergreifend lassen sich so z. B. Kompetenzstufen aus dem Bereich Medien & Informatik, Sprachunterricht (Wortschatzarbeit), Technisches Gestalten und Physik (NMG) verschränkt trainieren. Aber auch ohne diese Intervention lässt sich in dieser Umsetzungsidee das Thema der Geräuschsensibilität und allenfalls der Lärmverschmutzung diskutieren. Kinder bauen den nötigen Hörhorizont und Wortschatz auf, um Geräuschemissionen zu identifizieren und zu benennen und sie handeln partizipativ aus, wie sie damit umgehen wollen. Recherchen im Internet liefern Ideen zur innenarchitektonischen Beruhigung des Klassenzimmers.

Im Beispiel zum Aufbau verbesserter Zuhörfähigkeiten und -strategien lassen sich Gesprächsverläufe digital (z. B. mit dem Smartphone oder einem Tablet) aufzeichnen und von Lernenden im Anschluss selbstkritisch reflektieren. Wir hören und sehen uns selber beim Sprechen und Interagieren nicht von aussen. Video- und/oder Tonaufnahmen erlauben eine gezielte Analyse und ermöglichen präzise formative Selbst- und Fremdbeurteilungen. Diese sind die Voraussetzung für die Arbeit am eigenen (Zu-)Hörhorizont und damit unabdingbar für ein verändertes Hörhandeln. In dieser Umsetzungsidee kann besonders gut auch an den reflexiven Kompetenzen in Bezug auf das eigene Zuhörverhalten gearbeitet werden.

Auch im Muiskunterricht kann Hagens Hörhandlungsmodell als didaktischer Rahmen genutzt werden. Aus der Menge an Alltagsgeräuschen des kutlurellen und sozialen Hörraums können Schüler·innen digitale Aufnahmen erstellen und mit einer freien Software wie z. B. GarageBand zu einem eigenen musikalischen Sample mischen. Auf TikTok etabliert sich zur Zeit ein populärkultureller Trend, der darin besteht, dass eigene oder bereits digital bestehende Katzengeräusche (niesen, miauen, schnurren) zu elektronischer, beatgeladener Katzenmusik kompiliert wird. Diese Praxis veranschaulicht das kreative Spiel mit Referentialität (eigenes und bestehendes Klangmaterial wird zitiert, vermischt und verändert) und eignet sich zur Thematisierung der Algorithmizität (der Algorithmus bestimmt, was ich aufgrund meiner Präferenzen und meines bisherigen Onlineverhaltens an Material im Netz vorfinde) und der Gemeinschaftlichkeit (soziale Gefüge im Netz bilden ein Produktions- und Rezeptionskollektiv, das diese Form der musikalischen Verständigung teilt und ausprägt). Referentialität, Algorithmizität und Gemeinschaftlichkeit wurden von Felix Stalder (2017) als Kernmerkmale der Kultur der Digitalität beschrieben.

Weitere Umsetzungsideen

Studierende der PH Fribourg haben Ideen entwickelt, wie auf Basis von Hagens Hörhandlungsmodell in unterschiedlichen Kontexten in der Primarschule an Hörkompetenzen gearbeitet werden kann (beide Dateien wurden mir freundlicherweise für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt):

Joel Kälin erklärt in einer kurzen Audopräsentation, wie ausgehend vom Deutschunterricht der kulturelle und soziale Hörraum der Schüler·innen als Ressource genutzt werden kann, um an den Operatoren ‚beschreiben‘ und ‚assoziieren‘ zu arbeiten. Die integrierte Wortschatzarbeit verbindet die Kompetenzbereiche ‚Hören‘ und ‚Sprache im Fokus‘ des Deutschlehrplans 21. Über die Tonaufnahme mit digitalen Endgeräten werden auch Querverbindungen zum Rahmenlehrplan Medien und Informatik 21 umgesetzt. Über genaues Hinhören und Arbeit am eigenen Hörhorizont wird an sprachlichen Kompetenzen gearbeitet. Das erhöht die eigene Artikulationsfähigkeit und damit die sprachliche Handlungsfähigkeit im Umgang mit auditiven Eindrücken:

Joel Kälins Unterrichtsidee auf Basis von Hagens Hörhandlungsmodell

Lynn Mathias und Jonas Jungo nutzen das Hörhandlungsmodell nach Hagen für den Musikunterricht. Lernende erweitern ihren Hörhorizont im Identifizieren von unterschiedlichen Musikrichtungen. Die wachsende Sensibilität für unterschiedliche Musikstile und musikkulturelle Prägungen macht Lernende genussfähiger. Der vergrösserte Hörhorizont wird zum Ausgangspunkt für musikhistorisches Lernen und interkulturellen Dialog:

Bibliographie

  • Hagen, M. (2003). Förderung des Hörens und Zuhörens in der Schule. Begründung, Entwicklung und Evaluation eines Handlungsmodells. (Edition Zuhören 006). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Stalder, F. (2017). Kultur der Digitalität. (3. Auflage). Berlin: Suhrkamp.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

%d Bloggern gefällt das: