Es ist erstaunlich, wie der Kinderspielzeugmarkt auf die veränderten Kontextbedingungen des Heranwachsens in einer zunehmend digitalisierten Welt reagiert. Im Zusammenhang mit dem Blogbeitrag zum digitalen Chat mittels der App textingstory im Deutschunterricht wurde ich auf ein neuartiges Produkt aus der Schreibwarenabteilung für Kinder aufmerksam, das ich in diesem Beitrag kurz behandeln will.
Beim Bewältigen der Aufgabe, eine literarische Perspektivenübernahme anhand eines selbst gewählten Kinderbuches zu üben, hatte sich die 9-jährige Viola (Name geändert) für ihre aktuelle Lektüre aus der Reihe ‚Die Haferhorde‘ entschieden. Viola interessiert sich momentan für alles, was mit Pferden zu tun hat.
Während die anderen Kinder der Lerngruppe sich direkt an die digitale Chat-Aufgabe machten und das Medium explorativ erkundeten, griff Viola zuerst zum Papier. Sie begann in einer Art Planungsphase den Schreibprozess vorzustrukturieren:

Sie zeichnete eine horizontale Trennlinie und schrieb Text in gezeichnete Ovale, die sie teilweise zu einer Sprechblase erweiterte. Die Konversation die sich dadurch ergibt, funktioniert nicht wie im digitalen Medium als horizontaler Verlauf, sondern springt alternierdend zwischen beiden Seiten der mittigen Trennlinie hin und her.
Erst als Viola den gesamten Chat auf Papier niedergeschrieben hatte, griff sie, wie die anderen Lernenden, zum iPad und begann das Produkt Wort für Wort in den Chat zu überführen. Auffällig ist, dass es dabei zu keinerlei Korrekturen und Überarbeitungen mehr kam. In dem Moment, wo Viola das digitale Gerät in den Händen hielt, fand nur noch eine reine mechanische Übertragungsleistung statt, die sie allerdings mit erstaunlicher Konzentration und Akribie vollzog.
Im anschliessenden Gespräch mit den Kindern konnte ich Viola fragen, warum sie sich für diese Strategie entschieden hatte. Viola, die noch kein eigenes Mobiltelefon und auch keinen chatfähigen iPod besitzt und zu Hause nur gelegentlich am iPad spielt oder Kindervideos anschaut, hatte sich in der Schreibwarenabteilung des Spielzeughändlers einen Chat-Notizblock ausgesucht. Es handelt sich um einen ‚Mobilen Block‘ aus der Reihe miss-melody von Depesche.

Der Notizblock hat die Grösse eines Mobiltelefons und besteht aus vorstrukturierten Chat-Blasen mit Schreiblinien, eingelassenen Emojis, gelegentlichen Textbausteinen und kommentierten Zeichnungen, die geteilten Fotos im digitalen Chat entsprechen sollen.
Viola nutzt diese Schreibblöcke, wie sie mir zeigte, in ihrer Freizeit:

Transkript:
Hallo/ Toni wie wers/ malaus r[eiten?]// Ja um 15:00 // Ja super // Toni/ hab ein/ Neues/ Pferd. // schün/ ich had/ ein neues/ Kleid
Das Schreibprodukt zeigt, wie Viola versucht, sich in diesem speziellen Textrahmen zu orientieren. Entgegengesetzt zu ihrer oben zitierten Schreibprozessplanung, realisiert sie hier einen horizontalen Chatverlauf, greift aber in die Chatblasenvorlage ein. Sie chattet offensichtlich mit einem Mädchen namens ,Toni‘. Der erste vorgedruckte Textrahmen ist zu lange, so dass Viola diesen dreiteilt und die Chatbeiträge einmal auf Toni und zweimal auf sich selbst, die sie den Chat initiiert hatte, verteilt. Dass sie offensichtlich schon Kontakt mit dem Smartphone hatte und den digitalen Chat kennt, zeigt sich daran, dass Sie korrekt interpretiert, dass der im Chattitel gezeigte Name ,Toni‘ die fiktive Adressatin bezeichnet und nicht etwa die Besitzerin des „analogen Smartphones“. Die Emojis, die der Schreibblock vorgibt (und die sich im gesamten Notizblock identisch wiederholen), versucht Viola so gut es geht in ihren Chat zu integrieren, was ihr im letzten Beitrag am besten gelingt: Toni teilt ihrer Chatpartnerin Viola mit, dass sie ein neues Pferd hat, Viola entgegnet, dass sie ein neues Kleid besitzt und decodiert damit die Reihung der abgebildeten Emojis inklusive englischer Vigniette genau richtig. Viola versucht hier die Perspektive der fiktiven Chatpartnerin Toni zu übernehmen und quasidialogisch aus der Eigenperspektive darauf zu reagieren.
Es muss auffallen, welche Defizite dieses analoge Produkt besitzt: Hatte mein Blogbeitrag zum digitalen Chat im Deutschunterricht betont, dass die App die restriktiven Vorgaben der analogen Postkarte beseitigt und damit mehr Freiraum schafft und Organisationshilfen bietet, um die komplexe Aufgabe der Perspektivenübernahme zu bewältigen, so überträgt dieser Schreibwarenartikel diese Restriktionen aufgrund der analogen Schreibsituation jetzt auf die Textsorte ,Chat‘. Viola sieht sich wieder einem eindeutig fixierten Schreibraum gegenüber, in den sie einmal korrigierend eingreift und ihn dann wieder übernimmt. Mit den bereits gesetzten Emojis weiss sie z. T. nichts anzufangen, z. T. lässt sich davon vorschreiben, was ihr Text inhaltlich zu transportieren hat.
Viola hat wenig eigenkreative Möglichkeiten zur schriftlichen Entfaltung und baut überdies (was ein seltener Einzelfall sein mag), das Misskonzept auf, dass fiktive Chatproduktionen handschriftlich vorstrukturiert werden, bevor sie ins digitale Medium übertragen werden.
Für Spielzeugwarenhersteller spielt das keine Rolle. Produziert wird, was sich verkaufen lässt. Besonders gut läuft stark gegendertes Spielzeug, das noch dazu Allusionen an die digitale Welt macht und damit ein besonderes Faszinosum auf Kinder ausübt. Die Produzenten reagieren auf die veränderte Lebenswelt der Kinder, zeigen dabei aber wenig Gespür für Sinn und Unsinn in der Imitation des Digitalen mit analogen Mitteln.
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Natascha
27. August 2020 at 12:26
Interessant, dass es solche Produkte gibt. Was mich neugierig macht, ob es wohl noch diese Freundinnentagebücher gibt, in die man etwas schrieb und es dann an die beste Freundin weiterreichte, die wiederum antwortete etc. – weiß da jemand was? Bin sehr weit weg von Kindern und Teens im Moment…
adromontefusco
27. August 2020 at 12:35
Diese Nachfolgeprodukte der traditionellen ‘Poesiealben’ gibt es noch in analoger Form. Genutzt werden sie v. a. von Schüler·innen in Kindergarten und Grundschule, die noch keine eigenen digitalen Geräte besitzen oder zu jung sind, um eigene Accounts bei sozialen Netzwerken einzurichten. Diese analogen Freundschaftsbücher hoch-kommerziell (nicht individuell) und zudem häufig stark gegendert. Natürlich gibt es auch do-it-yourself-Varianten für Teenager im Stil von bullet-journals, die dann sehr kreativ und persönlich ausgestaltet werden. Es gab vor 10 Jahren auch digitale Varianten. Freundschaftsbücher wie ‘Digiposi’ sind eingeschränkte, digitale Plattformen, in denen Kinder sich in sozialen Netzwerken unter ihresgleichen bewegen können sollten (z. B. über Tablett und PC zu Hause). Hersteller warben damit, Kindern auf diesem Weg den Umgang mit sozialen Netzwerken “behutsam” beizubringen. Das Konzept war allerdings wenig erfolgreich.