In seinem Blogbeitrag ‚Sichtbarmachen durch Schwärzen‘ hat Christian Schenk (Gymnasiallehrer aus Deutschland), seine Erfahrungen mit Blackout Poetry im Literaturunterricht reflektiert. Auf twitter bin ich auf den Beitrag von Monika Stiller (Kantonsschullehrerin aus der Innerschweiz) aufmerksam geworden. Monika Stiller hat – von Schenk inspiriert – mit Sekundarschüler·innen im Literaturunterricht Blackout Poetry als produktives Mittel zur Interpretationsbildung eingesetzt. Die Bilder vermitteln anschaulich, worum es in der Blackout Poetry geht:
Spannend ist, dass in der Blackout Poetry von jeder Textsorte ausgegangen werden kann. Sachtexte, wie z. B. Zeitungsberichte, eignen sich ebenso gut wie bestehende Kunst (hier: Literatur), die in einem zweiten Schritt in weitere Kunst überführt wird – im besten Fall ergibt sich damit doppelt veredeltes Sprachmaterial.
Die Vorteile der Blackout Poetry für den Literaturunterricht liegen auf der Hand. Lernende werden dazu herausgefordert, ihre interpretativen Ansätze spielerisch am sprachlichen Material der Lektüre auszuprobieren und damit das eigene Textverständnis kreativ zu visualisieren. Schülerinnen und Schüler suchen sich Kernstellen im Werk, in denen Schlüsselbegriffe auftauchen, die für eine eigene Werkinterpretation belastet werden können. Diese Begriffe werden einerseits in der Blackout Poetry mit grafischen Mitteln ausgezeichnet (Hervorhebung, Rahmung), andererseits wird das umgebende Wortmaterial geschwärzt oder gestalterisch überformt, so dass sich die Lektüre der Textseite völlig neu gestaltet. Es entsteht ein Bild-Text-Verhältnis, das grafisch/ikonisch (Zeichnungen, Farbcode, geometrische Figuren) und symbolisch (Buchstaben, Wörter) den Aussagegehalt des Werkes oder der Textpassage birgt und diese poetisch verdichtet zum Ausdruck bringt.
In den abgebildeten Produkten zeigt sich, wie anspruchsvoll die Aufgabe ist: Lernende müssen Textverständnis mobilisieren, eigene Erfahrungen in der Literaturinterpretation an die Aufgabe herantragen, eine zentrale Textstelle des Werkes identifizieren, dabei genau auf Inhalt und Form achten und in einem kreativen Akt den prosaischen Textausschnitt in eine Form der gebundenen oder dichten Sprache übertragen, d. h. es muss auch Textsortenwissen aus dem Bereich der Lyrik aktiviert werden. Dabei sind die Schülerinnen und Schüler nicht völlig frei, sondern müssen mit dem vorhandenen Wortmaterial und den syntaktischen Strukturen arbeiten. Und an dieser Stelle liegt der Punkt, der mich besonders interessiert: Beim genauen Betrachten fällt auf, dass Prozeduren ins Spiel kommen, die metasprachliche Kompetenzen erfordern: Die lyrische Wortreihenfolge muss sich am Prosatext orientieren. Durch geschicktes Tilgen von grammatischen Morphemen lässt sich eine Wortform in eine andere überführen: aus Plural kann Singular werden, die Beugung eines Wortes kann sich ändern, durch Tilgung von Prä- und Suffixen können sich die Wortbedeutung oder die Wortart ändern oder es können Kürzungen entstehen oder Synonyme gebildet werden (im Beispiel 3 oben wurde so aus „glücklicherweise” „glücklic[h]”). Was die Methodik der Blackout Poetry nicht zulässt, ist eine Streichung von Wortbestandteilen bis auf die Ebene von Einzelbuchstaben. Wäre dies erlaubt, könnte praktisch aus jeder beliebigen Textseite alles entstehen. Der Text soll aber eben nicht wie ein Setzkasten in Zeiten des Buchdrucks zum blossen Buchstabenlieferanten werden. Lernende sollen das bestehende Wortmaterial behutsam neu formen und arrangieren. Dabei lässt sich auf spielerisch-kreative Weise eine Menge lernen, denn morphosyntaktische Zerlegungen und Rekonfigurationen sind Prozeduren, die genaue Sprachbetrachtungen voraussetzen und damit metasprachliche Kompetenzen fördern.
Schliesslich muss sich das neue Wortgerüst in eine grafische Umgestaltung der Textseite fügen, welche ihrerseits nicht beliebig ausfallen darf, sondern die Interpretationsleistung und damit die Aussage des entstandenen „Gedichts“ in bestmöglicher Art und Weise unterstützt. Auch eine bewusst herbeigeführte Diskrepanz zwischen lyrischem Aussagewert und dem Bildprogramm ist möglich, was besonders dann reizvoll sein könnte, wenn das literarische Werk auch mit dem Auseinanderdriften von Sprache und Form oder einem Widerspruch zwischen Figurenreden und Handlungsentwicklung spielt. Schüler·innen sind also auch herasugefordert, über das Semantisierungspotential von Bildern, Farben, Bildplatzierungen und der Text-Bild-Beziehung nachzudenken.
Metasprachliche Kompetenzen in der Primarschule
Wie bereits angesprochen, hat mich an der Methode der Blackout Poetry besonders der anspruchsvolle, spielerische Umgang mit dem Sprachmaterial fasziniert. Forschung belegt schon seit bald vierzig Jahren, dass die sich ergänzenden Kompetenzen des ‚impliziten Sprachbewusstseins‘ und der ‚expliziten Sprachbewusstheit‘ (Brown 1984) für den Orthographie- und Grammatikerwerb wichtige Grundvoraussetzungen bilden.
Gleichzeitig gehört gerade der Orthographie- und Grammatikunterricht in der Primarschule zu denjenigen Lerninhalten, die sich am hartnäckigsten neueren Lehr- und Lernformen widersetzten. An der Orthographie und Grammatik wird vor allem in isolierten Übungen gearbeitet. Lernende müssen Arbeitsblätter ausfüllen, z. B. zur ck-Schreibung oder zur Komparation von Adjektiven. Die Praxis zeigt dabei regelmässig, dass Kinder die orthografischen oder grammatikalischen Regeln zwar im isolierten Training beherrschen, beim Schreiben und Überarbeiten eines komplexeren Textes dieses Regelwissen jedoch nur unzulänglich mobilisieren können. Ein rein isoliertes Arbeiten an metasprachlichen Kompetenzen vernachlässigt zudem, dass sich menschliche Sprache stets in kommunikativen Situationen entfaltet (vom mentalen Selbstgespräch bis hin zur zerdehnten Kommunikation hochkomplexer Inhalte im Medium der Schriftlichkeit). Während dieses isolierte Training in gewissen Lernphasen durchaus Sinn machen kann, ist seine Überrepräsentation im Deutschunterricht eher ein Zeichen der Verlegenheit: Lehrpersonen und Studierenden fällt es schwer, den Bereich sprachformaler Betrachtungen mit anderen Kompetenzbereichen des Deutschlehrplans so zu verschränken, dass es zu einem wirklichen Lernzuwachs kommt. Was daraus resultiert ist eine verhängnisvolle Schieflage: Kinder lernen in diesem Fall implizit, dass beim Lesen stets nur die Inhaltsseite der Textrezeption eine Rolle spielt, beim Schreiben müssen sie dann aber plötzlich die sprachformalen Merkmale eines selbstproduzierten Textes sehr genau unter die Lupe nehmen. Dabei würde gerade authentisches literarisches Material, das in einer echten Kommunikationssituation steht, eine gute Ausgangslage bieten, um daran metasprachliche Kompetenzen aufzubauen und sich in sprachformalen Beobachtungen zu üben. Blackout Poetry bietet eine gute Möglichkeit dazu.
Probleme bei analoger ,Blackout Poetry‘
Damit Kinder anfangen, experimentell mit dem sprachlichen Material eines literarischen Textes umzugehen, müssen sie Fehler machen können. Erste Versuche mit Blackout Poetry im analogen Papiermedium haben gezeigt, dass gerade Grundschulkinder schnell in eine frustrierende Situation kommen. Sie sehen die hochästhetischen Produkte, die von der Lehrperson bei der Einführung in die Methode exemplarisch gezeigt worden sind und wollen selber etwas Kreatives und Schönes schaffen. Mit jedem falsch umkreisten Wort und jedem morphologischen Ausrutscher muss zum Radiergummi oder Tintenkiller gegriffen werden. Das Blatt wellt sich, Spuren von falschen Ansätzen bleiben sichtbar, Fragen, wie das lyrische Material illustriert werden soll, drängen sich auf. Die Aufmerksamkeit junger Lernender wird ungünstig von ästhetischen Fragen vereinnahmt, es baut sich Frust auf über die unschönen Korrekturspuren. Kinder, die motorisch und gestalterisch noch Defizite haben, stehen vor zusätzlichen Schwierigkeiten, die sie von der eigentlichen Aufgabe ablenken.
Digitale Lernumgebung ,Blackout Poetry‘
Diese Überlegungen haben mich dazu geführt, eine digitale Lernumgebung für Schüler·innen des Zyklus 2 (5-8H) zu gestalten, in der die oben genannten Probleme im Umgang mit der Blackout Poetry in den Hintergrund treten. Die meisten vektorbasierten Grafikprogramme für das Tablet ermöglichen heute den Import von direkt am Gerät aufgezeichneten Fotos, die sich anschliessend zu aufwändigen Text-Bild-Kompilationen verarbeiten und in diverse Formate exportieren lassen. Gerade für Primarschüler·innen steigt durch diese Medienumgebung einerseits die Kompetenzanforderung, da sie gleichzeitig auch mit Softwareanwendungen vertraut werden, die sie in anderen Gebrauchszusammenhängen wieder verwenden können, gleichzeitig ermöglicht die Arbeit mit einer Bildbearbeitungs-App das Experimentieren, das gerade bei der Blackout Poetry so wichtig ist: Jeder Bearbeitungsschritt, jede geschwärzte oder ausgezeichnete Textstelle, kann wieder in den Originalzustand versetzt werden, ohne dass Lernende auf Papier radieren und neu ansetzen müssen. Im Beispiel drei (oben rechts) wurde der Buchstabe „h” beim Zielwort „glücklich” abgetrennt − ein Fehler, der im digitalen Medium leicht zu korrigieren gewesen wäre, im analogen aber durch die benutzten Schreibmaterialien untilgbar bleibt, es sei denn man greift zur Korrekturflüssigkeit. Am Tablet treten zu den analogen Auszeichnungsmöglichkeiten von Textstellen digitale hinzu: Lernende können mit Transparenzen arbeiten, Spezialeffekte über ausgewählte Textblöcke legen und Fotocollagen erstellen, ohne von ihren eigenen zeichnerischen Fähigkeiten limitiert zu werden. Die digitalen Produkte können schliesslich mit anderen geteilt oder online in unterschiedlichen Gebrauchszusammenhängen veröffentlicht werden. In einem weiteren Blogbeitrag werde ich demnächst zeigen, wie Blackout Poetry mit der Stop-Motion-Technik von Lernenden in einer Art audiovisueller Performance künstlerisch weiterentwickelt werden kann.
App ,SketchBook‘
Mit der Applikation SketchBook liegt ein leicht zu bedienendes Tool vor, das in der Grundversion alle Funktionen bietet, um damit gut Blackout Poetries zu erstellen. Die App ist gratis, blendet aber beim Einfügen von Fotografien eine kurze (unbedenkliche) Werbung für eine andere App der Firma ein, die nach einigen Sekunden weg geklickt werden kann. Wer darauf verzichten kann und mit dem iPAd arbeitet, kann auch Experimente in Pages machen, was insbesondere dann reizvoll ist, wenn kollaborativ an einer Blackout Poetry gearbeitet werden soll.
Die Lernenden einer fünften Primarschulklasse (7H) wurden von der Lehrperson in die Technik der Blackout Poetry eingeführt und durften anschliessend die App SketchBook in Einzelarbeit erkunden. Die zu nutzenden Funktionen sollten sich beschränken auf:
- das Einfügen von Fotografien
- die Wahl des Pinsels und der Farbe
- die Einstellung der Pinselgrösse
- das Nutzen der undo- und redo-Funktion
- das Verstecken der Werkzeugleisten zum freieren Arbeiten
- das Nutzen des Zweifinger-Zooms
- das Exportieren (Speichern) des erstellten Werkes
Da die Applikation sehr übersichtlich ist und intuitiv bedient werden kann (die Lernenden haben Grundkenntnisse in Englisch), gelang der Klasse die Einarbeitung sehr rasch. Die Lerhperson vermied es, bei Problemen sofort einzuspringen und verwies die Lernenden auf die Gesamtgruppe.
Mit der App sollten Kinder anschliessend eine eigene Blackout Poetry erstellen. Dazu konnten sie eine Doppelseite aus ihrer aktuellen Bibliothekslektüre bearbeiten. Die Lehrperson gab den wichtigen Hinweis, dass das Resultat anschliessend mit der Klasse geteilt werden würde und eine Diskussionsrunde folgen würde. Satzzeichen sollten als Zäsuren mit in die verdichtete Textform einbezogen werden, damit beim Lesen klar werden würde, welche Sinneinheiten zusammen gehören. Die Kinder wurden ermutigt, auch in die Wortformen einzugreifen. In dieser Übung konnten sie frei wählen, ob sie alle nicht verwendeten Textelemente schwärzen, bzw. übermalen oder ob sie diese durch Rahmung oder andere Kennzeichnung hervorheben wollten.
Was anfänglich noch Schwierigkeiten bereitete, war der Umstand, dass die Wörter genau in der Chronologie ihres Auftachens im Text verwendet werden müssen. Hier mussten Kinder beim halblauten Vorlesen immer wieder neu beginnen, bis sie etwas geübt waren.

Gülen (Name geändert) hat in einer Doppellektion obenstehendes Textbeispiel erstellt. Sie wählte die freiwillige Lektüre des Buches ,Ein Känguru wie du‘ von Ulrich Hub aus der Klassenbibliothek. Sie musste sehr oft neu ansetzen und las sich das Zwischenprodukt immer wieder halblaut vor. Die Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Material war intensiv. Gülen hat eine andere Erstsprache als Deutsch und nur wenig Erfahrung mit lyrischen Textformen. Bei genauem Hinsehen, fällt auf, dass sie eher einen narrativen Kurztext produziert und Kompetenzen zur Anwendung bringt, die sie auch beim Verfassen von Zusammenfassungen mobilisert: Sie streicht alle Textbausteine, die verzichtbare Informationen beinhalten und bemüht sich, in jedem Abschnitt die wesentlichen Kernaussagen zu identifizieren. Eigentliche Balckout Poetry im Sinne von Poetry ist das vielleicht nicht, aber es ist ein sehr gelungenes Produkt einer Sprachverdichtung, das noch dazu witzig illustriert wurde: Im Kinderbuch treffen die beiden Raubkatzen, die ihrem Domteur davongelaufen sind, im Kellergewölbe eines grossen Gebäudes in der fremden Stadt auf ein boxendes Känguru (Boxsack im Keller). Diesem sonderbaren Känguru präsentieren sie ihre Kunststückchen, die zum ersten Mal auch wirklich gelingen. Auf der Dachterrasse feiern die drei neuen Freunde ihre sportlichen Erfolge und philosophieren übers Leben.
Gülen hat einerseits syntaktisch neue Einheiten gebildet und musste dabei immer wieder ausprobieren, was sinnvoll war und was nicht. Morphologisch hat sie an einer Stellen in den Ursprungstext eingegriffen: aus „brennenden Reifen“ musste sie „brennende Reifen“ bilden. Die Tilgung der Deklinationsendung, die aus dem Akkusativ den Nominativ des Adjektives bildet, verlangte Gülen einiges an metasprachlichen Überlegungen ab. Dass sie nach „Männchen“ vergass, ein Interpunktionszeichen stehen zu lassen, zeigt auf wie vielen Ebenen Aufmerksamkeit gefordert war. Am auffälligsten war für die Lehrperson, dass Gülen sich so ausdauernd mit der Sprachbetrachtung beschäftigt hatte. Gerade das explorative Ausprobieren und Rückgängig machen hat ihr viel Konzentration abverlangt, die Gülen aber während der Doppellektion sehr gut aufrecht erhalten konnte.

Melanie (Name geändert) hat die Klassenlektüre als Vorlage gewählt. Sie arbeitet mit ihrem Sitznachbarn Ivan (Name geändert) zu derselben Doppelseite aus der Geschichte ,Mutter, Vater, ich und sie‘ von Jürg Schubiger aus dem Sammelband ,Als die Welt noch jung war‘ (Illustriert von Susanne Berner).
Melanie kreiert einen lyrischen Text, indem sie viel Gespür für syntaktische Strukturen aufbringt. Auch sie vergisst den Hinweis, Interpunktionszeichen konsequent einzubeziehen teilweise, die hierarchische Gestaltung des Bildprogramms mit der orangen Schlangenlinie, die den Konnex zwischen den Sinneinheiten bildet, macht aber deutlich, wie die Blackout Poetry zu lesen ist:
Mutter hat Sehnsucht
und
Heimweh.
Wir schweigen
Gedanken loswerden
Gestalterisch fängt Melanie, wie sie im anschliessenden Austasuch über ihr Vorgehen und ihre Erfahrung reflektiert, den Zustand der Mutter ein, indem sie einen Schildkrötenpanzer mit Igelstacheln malt. Dass die Spur, die der „Schildkrötenigel“ zieht, auch einmal um sich selbst herumgeht und damit zur visuellen Chiffre für das Kreisen der Mutter (die zwischen Abwehr und Rückzug taumelt) um sich selbst steht, hat Melanie selber nicht bewusst erkannt, sie fand diese Interpretation der Gruppe aber äusserst treffend. Besonders poetisch wirkt auch der Umstand, dass Melanie auf der linken Seite ihres Gedichtes einen längeren Satz bildet, auf der rechten Seite dann einen kurzen Satz und eine Ellipse, als ob damit der Verlust der Fähigkeit, über die leidvolle Erfahrung zu sprechen, eingeholt werden sollte.
Auch Melanie war sehr konzentriert bei der Arbeit und hat ausgiebig mit dem sprachlichen Material gespielt. Sie hat in vielen Einzelschritten ausprobiert, gelöscht, neu angesetzt. Für die Illustration am Schluss blieb nur wenig Zeit, weshalb sie zeichnerisch etwas unausgereift wirkt. Der künstlerischen Aussage tut dies, wie die Interpretationsmöglichkeiten oben zeigen, keinen Abbruch.

Ivans Produk zu derselben Doppelseite (die beiden Lernenden teilten sich die Fotografie, die Melanie machte, selbständig per AirDrop um Zeit zu sparen), zeigt eine andere Strategie. Der Schüler bildete einen verdichteten Satz, der mit einem selbstgezeichneten, frei schwebenden Interpunktionszeichen (Punkt) endet und sich wie folgt liest:
Sehnsucht
ist
schwarz gekleidete
Sprache
und
findet
keine Antwort.
Auch Ivan hat die emotional belastende Situation, in der sich die Mutter in dieser Textepisode befindet, mit Worten einzufangen versucht. Er greift morphologisch nicht in das Wortmaterial ein, hat aber auch lange ausprobiert, bis er eine Wortkombination fand, die eine Spannung ausdrückt. Im Gespräch konnte Ivan nicht so genau ausdrücken, was seine Metapher der „schwarz gekleideten Sprache“ genau meinen könnte, er wollte sie einfach als Bild verstanden wissen, das er ja auch grafisch umzusetzen versuchte: Der Illustration der Mutter hat er ein dunkles Oberteil verpasst und der Kopf, der zwischen Daumen und Zeigfinger in der Illustration rechts im Original zu sehen war, wurde in Ivans Blackout Poetry zum Punkt eines Fragezeichens. Weil auch Ivan die Zeit zum Zeichnen zu knapp wurde, entschied er sich für schwarze Himmelstränen, die er mit unterschiedlichen Pinselwerkzeugen über die Leinwand verteilte.
Im Gespräch reflektierte Ivan, dass er gar nicht gedacht hätte, dass man aus fertigen Sätzen fast endlos viele neue fertigen könne. Er hätte noch viele Ideen gehabt für andere Wortkombinationen, diese sei aber für ihn die geheimnissvollste gewesen, „wie von einem echten Dichter“. Mit siener zeichnerischen Umsetzung war Iwan unzufrieden.
App ,Adobe Fresco‘
In einer digitalen Lernumgebung eröffnen sich auch Möglichkeiten, auf diese Handzeichnungen zu verzichten und auf die Hilfestellungen einer ausgefeilteren Bildbearbeitugs-App zurück zu greifen. Ich erstellte eine einfache Anleitung für die App Adobe Fresco, die vor wenigen Monaten im AppStore für das iPad verfügbar wurde. Adobe Fresco verfügt über ähnliche Funktionen wie Procreate, ist aber etwas übersichtlicher gestaltet und als Freemium-Version erhältlich (es braucht lediglich eine AdobeID, um sie in den Grundfunktionen zu nutzen).
Anhand dieser Anleitung konnten Lernende mit der App mehr Zeit für die Sprachbetrachtung aufwenden, da sie nur Wortmaterial einkreisen mussten und keine Zeit mit dem Übermalen/Schwärzen von Textstellen verloren. Die App lässt nämlich zu, dass mit der Füllfunktion alle nicht umrahmten Bildstellen mit einer Füllfarbe übertüncht werden. Durch einen einfachen Import von Fotografien und eine bewusst einfach gehaltene Transformation und Maskierung dieser Importbilder konnten die Illustration der Blackout Poetry von den eigenen Zeichenfertigkeiten losgelöst werden. Nachfolgende zwei Beispiele:

Die Kinder der Lerngruppe sollten eine Doppelseite aus der Klassenlektüre aus dem ersten Band ‘Der erste Fall’ aus der Buchreihe ‘Kommissar Gordon’ von Ulf Nilsson und Gitte Spee anhand der Anleitung in Adobe Fresco verarbeiten. Die Klasse hatte die Lektüre gerade beendet und die Schüler·innen durften frei wählen, welcher Episode sie sich zuwenden wollten.
Paula (Name geändert) ist es sehr gut gelungen, auch die Satzzeichen in ihre Blackout Poetry einzubeziehen und damit Zäsuren zu setzen. Sie schafft es, ihr Textverständnis zu aktivieren und gleichzeitig eine lyrische Textform zu schaffen:
Die Maus im Gefängnis der Polizeistation.
Gefängnis.
Kommissar.
Zelle.
Furchtbare Nacht im Dunkeln festgefroren.
Furchtbare Nacht.
Furchtbare Eichhörnchen.
Denken, helfen,
Paula hätte sich das letzte Komma sparen können, aber in ihrem Verständnis endet das Gedicht ja eben auch mit einer Zäsur, die sie markieren wollte. Paula schafft einen stark verdichteten Text, der vermuten lässt, dass sie bereits ausgiebigen Kontakt mit gebundener Sprache hatte. Die Wortwiederholungen, die der Originaltext zwar anbietet aber durch die Einbindung in längere Satzgefüge kaschiert, wirken in hohem Grade lyrisch. Paula hat auch morphologisch in den Text eingegriffen: aus „furchtbaren“ wurde „furchtbare“, damit die Wortbeugung nun in die neue syntaktische Struktur passt. Im Original stand „Kommissar Gordon mochte keine furchtbaren Dinge“, das Verb „mögen“ regiert den Akkusativ, fällt es weg, wie in Paulas elliptischer Struktur, muss der Nominativ stehen. Der dreifache anaphorische Versbeginn schafft eine interessante Rhythmisierung. Dass die einzigen Verben im Gedicht im Infinitiv am Ende stehen, entfaltet eine besondere Wirkung. Sie klingen wie ein Mantra im Bewusstseinsstrom des Kommissars. Paula erklärt, dass ihr erst beim Absuchen des Textmaterials nach Möglichkeiten für die Blackout Poetry das häufige Auftauchen des Begriffes „furchtbare“ aufgefallen sei. Sie fühlte sich dann davon angezogen, weil an diesem Punkt der Geschichte ja auch alles „furchtbar“ sei: Die Situation für die unschuldige Maus, die Situation des ungelösten Falls für den Kommissar und die Situation des Eichhörnchens, das in seiner Vergesslichkeit nicht ahnt, dass es Opfer seiner selbst wurde. Hier zeigt sich, wie die Methode der Blackout Poetry bereits Kindern in der Primarschule hilft, über die Sprachbetrachtung Entdeckungen an einem prosaischen Text zu machen, die bei immersiver Lektüre überlesen werden.
Ein Vergleich mit dem Originaltext zeigt, wie gut es Paula gelungen ist, zentrale Begriffe für die Textpassage zu identifizieren und diese sehr einfallsreich in neue Bezugsgefüge zu setzen:

Der Textauszug steht im Zusammenhang mit der Festnahme einer Maus, die von einem Eichhörnchen beschuldigt wurde, ihre Nüsse für den Wintervorrat gestohlen zu haben. Kommissar Gordon muss die Maus über Nacht in Untersuchungshaft setzen, weiss aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das Eichhörnchen selbst der Täter ist. Paula antizipiert diesen Sachverhalt in ihrer Blackout Poetry auf der Ebene des Textes und setzt sie auch grafisch um. Sie hat die Illustration des Eichhörnchens fotografiert und dieses zweimal auf einer neuen Ebene in Adobe Fresco importiert und transformiert (gedreht und vergrössert, bzw. verkleinert). Das kleine Eichhörnchen stellt das vermeintliche Opfer dar, das grosse ist quasi dasselbe Tier als Übeltäter.

Svenja bearbeitet eine Doppelseite aus demselben Buch. Sie ist Linkshänderin und ihr fiel die Handhabung des Logitech Crayons auf der rutschigen Glasoberfläche des iPads anfangs noch etwas schwer. Ihre Textumrahmungen sind eng ausgefallen, was auch damit zusammenhängt, dass sie den Textausschnitt nur wenig vergrösserte, um mehr Wortmaterial im Überblick zu behalten. Dennoch ist ihre Blackout Poetry sehr interessant ausgefallen, sie liest sich wie folgt:
Der Kommissar
Was wird Chef?”
Die Diebe erwischt.
Die Fussabdrücke sind
meine.
Auch Svenjas Produkt wirkt ausgesprochen lyrisch. Die Schülerin versucht mit quasidialogischen Strukturen zu spielen. Als einzige Lernerin der Gruppe hat sie einen Gedichttitel gewählt. Diesen hätte sie gerne mit der Auswahlfunktion der App noch weiter vom Text abgerückt, aber das war nicht möglich, weil die Anleitung dies nicht vorsah (dazu müsste auf Stufe der Textumrahmung eine zusätzliche, separate Ebene kreiert werden).
Witzig wirkt Svenjas Entscheidung, den Schlusspukt ihres Gedichts so weit weg vom Rest des Textes zu setzen (ein Vergleich mit der Original-Doppelseite zeigt, dass es andere Möglichkeiten gegeben hätte). Solche Entscheidungen haben durchaus Semantisierungspotential, auch wenn den Schüler·innen selbst dies nicht zwingend bewusst sein musste. Svenjas Blackout Poetry fällt auf Text- und Bildebene ganz anders aus, als Paulas: Hier steht nicht das Furchtbare im Vordergrund, sondern die Antizipation des gelösten Falls. Diese kommt im Originaltext so noch gar nicht vor, aber Svenjas besonderer Moment war, als sie entdeckte, dass im Wort „verwischt” das Wort „erwischt” steckt: man muss nur den Anfangsbuchstaben tilgen.

Der quasidialogische Text kann so gelesen werden, dass drei Figuren sprechen: Buffy, die Maus, die an dieser Textstelle schon zur Assistentin des Kommissars geworden ist, eröffnet das Gedicht mit ihrer Frage. In der zweiten Zeile antwortet der Kommissar und der letzte Vers wäre dann die Antwort des Eichhörnchens, das einsehen muss, dass es identifiziert worden ist. Dazu passt das von Svenja ausgesuchte Bild, das sie in eine Art Gedankenwolke neben dem Gedicht schweben lässt. Es wurde der Seite 17 entnommen und zeigt das klagende Eichhörnchen, das dem Kommissar von seinem Verlust berichtet und anschuldigend von sich weg weist. Svenjas Text deutet damit auf das Ende der Geschichte, während das Bild den Bogen zum Anfang der Erzählung schlägt. Der konstruierte Dialog verbindet beide: Jetzt wirkt das Bild so, als hätte Kommissar Gordon schon von Anfang an sehen können, dass er eigentlich dem Eichhörnchen auf der Spur ist.
Fotobearbeitung am Smartphone oder TAblet
Wer es ganz simpel halten will, kann auch einfach am Tablet oder Smartphone mit der Kamera ein Foto eines Kurztextes (Zeitungsartikel oder Kolumne) fotografieren und direkt in der Bildbearbeitung mit dem Schwärzen beginnen. Für Studierende habe ich dazu folgende Vidoeanleitung erstellt:
In kurzer Zeit lassen sich damit digitale Produkte erstellen. Das untenstehende Produkt einer Studentin zeigt, wie gut dies bereits beim ersten Anlauf gelingen kann. Besonders reizvoll bei dieser Methode ist der Umstand, dass der Gesamtkontext des Artikels noch schwach durch die Schwärzung durchschimmert und damit auch ein Blick auf das Gemachtsein der lyrischen Komposition geworfen werden kann.

Die Goldene Brücke
Etwas Magisches.
sie wird das Gesicht verwandeln.
Tonnen schwer und Meter lang.
Die Brücke, made in China.
Die Goldene Brücke,
der Verkehrsknotenpunkt:
450 000 Menschen –
mit Auto. Bus. Metro. zu Fuss.
Gold?
Aus der Ferne gleich ins Auge fallen.
Ein Publikumserfolg.
Auch im Fremdsprachenunterricht kann Blackout Poetry eingesetzt werden. Für höhere Schulstufen (Sek I, Sek II) könnte der Versuch unternommen werden, aus einem prosaischen Sachtext philosophische Aphorismen zu erstellen. Im hier verlinkten Video ist aus einem wissenschaftlichen Text zur mittelalterlichen Diagrammatik ein philosophischer Sinnspruch entstanden:
Aphorismus
Every symbol in languages is a harmonious shape among interlaced relationships based on logic.
Eine Studentin hat in ihrer Drittsprache folgende – ironisiert lyrische – Blackout Poetry verwirklicht und dabei auch ein Spiel mit dem Text-Bild-Verhältnis entfaltet. Auf Textseite wird mimetisch mit den parataktischen Stil in technischen Bedienungsanleitungen gespielt:

Abschliessende Bemerkungen
Beim Beobachten, wie die Schülerinnen die Aufgabe lösen, ist aufgefallen, wie intensiv die Auseinandersetzung mit den morphologischen und syntagmatischen Eigenschaften des Sprachmaterials ist. Die App hat es möglich gemacht, direkt auf der fotografierten Textseite beliebig oft auszuprobieren und Wortkombinationen ständig neu zu rekonfigurieren. Die Schülerinnen haben Fehlversuche durch halblautes Lesen selbständig erkannt, z. B. wenn Genus, Numerus und Kasus nicht zu den vorangehenden Versbausteinen gepasst haben oder die Wortauswahl in den Zwischenräumen nicht das hergab, was ursprünglich gesucht wurde. Dieses spielerische Ausprobieren frustriert nicht, da im digitalen Medium mühelos einzelne Arbeitsschritte rückgängig gemacht werden können. Die Hemmschwelle, etwas falsch machen zu können, bleibt niedrig, dadurch steigt die Anstrengungsbereitschaft, mit der sich Lernende an die Aufgabe machen.
Wenn Lerndende zum erstenmal mit der Anleitung mit Adobe Fresco arbeiten, dann hangeln sie sich im Wesentlichen einfach einer Punkteliste entlang. Sie können die App zwar damit bedienen und sich auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren, lernen aber höchstens implizit, was Bildbearbeitung, -kompilation und -rekonfiguration bedeutet. Es wäre sehr sinnvoll, in späteren Lernarrangements noch stärker unter dem Aspekt des Medien- und Informatikunterrichts mit den Lernenden anzuschauen, was denn bei den einzelnen Bearbeitungsschritten passiert: Was bedeuten Bildebenen? Was ist eine Maske? Warum funktioniert das Radieren bei einer Bildmaske? In einer Doppellektion ist es nicht möglich, Kinder direkt an die Blackout Poetry hinzuführen und zeitgleich ein Verständnis dieser elaborierten Applikation aufzubauen. Zu sehen, dass die Lernenden aber in einer Doppellektion zunehmend ohne Anleitung Bearbeitungsschritte wiederholen und Probleme durch Ausprobieren lösen, lässt vermuten, dass durchaus auch schon auf der Primarstufe ausführlicher in die Funktionsweise solcher Apps eingeführt werden könnte.
Was die Beispiele zeigten: Blackout Poetry eignet sich gut, um Reflexionsprozesse über sprachformale Eigenschaften von Texten in Gang zu bringen. Gleichzeitig kommt Textsortenwissen zur Anwendung, da eigene Erfahrungen mit lyrischen Formen verarbeitet werden können. Es geht nicht um das unkreative Abarbeiten von auswendig gelernten Normen an isoliertem Sprachmaterial ohne kommunikativen Kontext, sondern um eine Vernetzung von abstraktem, internalisiertem Regelwissen (Morphologie, Grammatik, Textsorten) in einer ergebnisoffenen Lernumgebung. Lernende gehen von einem prosaischen Text aus, selektieren auf der Grundlage von umfangreichen Sprachbetrachtung Textbausteine und transferieren diese vor dem Hintergrund ihres Textverständnisses in eine Form verdichteter, lyrischer Sprache. Schliesslich muss auch auf grafischer Ebene eine passende Repräsentationsform gefunden werden: Die Bedeutungszuschreibung, die Lernende ihrem lyrischen Text zugrunde legen, muss sich auch in der gestalterischen Umsetzung auf Bild/Farbebene wiederspiegeln. Je nachdem welche Applikation zur Bewältigung der Aufgabe genutzt wird, müssen Lernende auch ihre Kompetenzen in der Handhabung der digitalen Lernumgebung nutzen, bzw. erweitern (fotografieren mit iPad, Bildimport, Arbeit mit Ebenen, zeichnen mit Eingabestift, undo– und redo-Funktion nutzen, Bildexport in erforderliches Dateiformat). Besonders wertvoll wird das Lernarrangement, wenn auf die eigenkünstlerischen Umsetzungen sprachliches Handeln folgt, indem Lernende in der Gruppe über die Wirkung der Produkte ihrer Mitschülerinnen austauschen, Interpretationen diskutieren und an ihrer eigenen Blackout Poetry den Produktionsweg erklären, Entscheidungen begründen und dabei metasprachliche Beobachtungen ausformulieren.
Letztlich kann Kunst umso mehr geniessen, wer versteht, was sie ausmacht. Kinder lernen über die Blackout Poetry in besonderem Masse die Funktionsweise verdichteter Sprache kennen. Die Lernumgebung zeigt, dass Kinder sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen bewegen: Einige wollen die Aufgabe besonders gut lösen und gehen vor wie bei der Zusammenfassung eines Sachtextes. Ihre Grundfrage ist weniger, was sich mit dem sprachlichen Material alles anstellen lässt, als auf welche Textbausteine verzichtet werden kann, ohne die Textaussage zu tangieren (vgl. Gülens Beispiel oben: die Schülerin kreiert eine textnahe, dichte „Zusammenfassung“ und bleibt auch vom Bildprogramm her nahe am Ausgangstext mit nur schwacher Symbolik). Andere Kinder verstehen, dass der Reiz der Aufgabe gerade darin besteht, Sinneinheiten zu schaffen, die durch ihre eigene Lektüre geformt wurden und die so eben gerade noch nicht im Text enthalten sind. Erst auf den zweiten Blick bergen diese lyrischen Produkte den tieferen Gehalt der Geschichte. Für eine Klasse kann es sehr gewinnbringend sein, diese Unterschiede in der Herangehensweise zu thematisieren. Hier lässt sich vieles, was Kinder passiv-rezeptiv nur schwer über Lyrik und dichte Sprache lernen können, anschaulich über den produktiven Zugang thematisieren.
Bibliographie
- Brown, A. (1984). Metakognition, Handlungskontrolle, Selbststeuerung und andere, noch geheimnisvollere Mechanismen. In F. E. Weinert & R. Kluwe (Hg.). Metakognition, Motivation und Lernen, 61-109. Stuttgart: Kohlhammer.
Bildnachweis
- Das Titelbild stammt vom Blog des College Dropouts und Unternehmers Derek Magill.
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