Um Studierenden den Bereich literarischen Lernens näher zu bringen, setze ich gerne bei der Frage an, was Literatur von Nicht-Literatur unterscheidet. Häufig gehen Lernende davon aus, dass es um inhaltliche Aspekte geht. Mit dieser kurzen, geführten Lernsequenz ist mir aber daran gelegen, die Aufmerksamkeit auf den Gestaltungswillen, auf die Ästhetisierung des Erzählten, zu richten: Es ist vor allem der Umgang mit der Sprache, der Literatur zur Kunstform macht.
Ich stelle fest, dass ein Grossteil der Studierenden nicht daran gewöhnt ist, bei der Lektüre auf sprachgestalterische Mittel zu achten. Wenn überhaupt Literarisches gelesen wird, dann oft im Modus einer immersiven Lektüre, die ganz auf die inhaltliche Ebene fixiert bleibt und sprachliche Auffälligkeiten überliest. Dies kann fehlendem Bewusstsein für sprachgestalterische Mittel geschuldet sein oder damit zusammenhängen, dass vorwiegend Texte gelesen werden, in die schon auf Produktionsseite wenig Sprachbewusstsein und/oder sprachlicher Gestaltungswille eingeflossen ist.
Mit folgender kurzen Intervention steige ich oft in eine Lehrveranstaltung zum Thema ‚Sprachbetrachtung, sprachliche Bewusstseinsbildung und literarisches Lernen‘ ein. Das Vorgehen hat sich bewährt, weil Studierende auf anschauliche Art und Weise an einem altersgerechten Text spannende Beobachtungen anstellen können und in die Lage gebracht werden, selber viel Sprachbewusstsein aufbringen zu müssen.
1. Konfrontation mit einem aussergewöhnlichen Werkbeginn
Ich steige ein, indem ich den ersten Absatz aus Christian Krachts Roman ‚Die Toten‘ vorlese. Die Studierenden können den Text über die Tischkamera mitlesen oder schliessen die Augen und lassen den Text auf sich wirken:

Ich lege Wert darauf, die Stelle atemrhythmisch vorzulesen ohne überdeutliche Zäsuren zu machen. Studierende werden gebeten, ihre Eindrücke zu artikulieren. Schnell herrscht Einigkeit darüber, dass dieser Werkbeginn auffällig gestaltet ist. Insbesondere die Satzlänge fällt auf. Fast die ganze erste Seite besteht aus einer aufwändig verschachtelten, syntaktischen Hyperstruktur, die dennoch an keiner Stelle unverständlich oder überkomplex wirkt. Gewöhnlich driften Studierende schnell dazu ab, auf die Schilderung innerer Bilder abzuheben. Sie sprechen von Emotionen, wobei es ihnen auch häufig nicht sofort gelingt, diese klar zu fassen. Erst mit der Zeit gelingt es, das Gespräch auf die sprachliche Struktur, die besondere Markierung gewisser Passagen zu lenken.
Ich versuche, diese Rezeptionseindrücke unkommentiert stehen zu lassen, frage nach, bitte gelegentlich um Präzisierungen und gehe dann dazu über, die Betrachtungen der Gruppe auf das Satzende zu richten, um die Aufmerksamkeit der Gruppe auf eine kleineren syntaktischen Einheit zu bündeln. Aus diesem Teilsatz soll anschliessend die Sprachskulptur modelliert werden, weil sich hier das zu untersuchende Phänomen besonders verdichtet:
“…zerbrochen und portioniert von arrhythmisch prasselnden, ewigen Schauern.”
Christian Kracht, Die Toten, S. 11.
2. Sprachskulptur
Ich bitte die Gruppe, diesen Teilsatz im Kanon laut und mit gewissem artikulatorischen Aufwand zu sprechen. Die erste Studentin beginnt laut zu lesen, sobald sie ein oder zwei Worte ausgesprochen hat, setzt der nächste Student ein und so fort. Wer den Teilsatz laut artikuliert hat springt wie bei einem Kanon an den Anfang der Passage zurück und fährt von vorne fort. Die Aufmerksamkeit der Studierenden ist dabei ganz auf das eigene Sprechen gerichtet. Deshalb zeichne ich mit dem Smartphone von vorne die Sprachskulptur, die sich jetzt aufbaut, auf. Wenn alle Studierenden gleichzeitig sprechen, warte ich noch einige Sekunden bevor ich per Handzeichen signalisiere, dass der Sprech-Chor wieder verstummen darf. Die aufgezeichnete Sprachnotiz sende ich per AirDorp auf mein Notebook und spiele über die Raumlautsprecher die aufgezeichnete Sprachskulptur ab.
Jetzt können die Studierenden ihre Aufmerksamkeit auf den klanglichen Effekt richten, der sich durch diese Übung ergeben hat:
Mit jede·r Sprecher·in wird die Sprachskultpur zunhemend zu einem Klanggebilde, bis man die einzelnen Worte kaum mehr erkennt und einem diffusen „sound” ausgesetzt ist. Die Frage die sich an diesem Lautkonstrukt erörtern lässt, lautet: Wie klingt das? Wie wirkt das?
Wenn das Produkt der Lerngruppe aus raumakustischen oder technischen Gründen in der Aufnahme etwas zu undeutlich ausfällt, greife ich auf eine Montage zurück, die ich selber mit GarageBand angefertigt habe. Ich habe den Teilsatz selber gesprochen, jeweils viermal hintereinander kopiert und diesen Viererblock unregelmässig versetzt auf acht Tonspuren gelegt:

Sehr schnell wird für die Lerngruppe klar, dass das Geräusch dem heftigen Niederprasseln von Regentropfen auf harte Oberflächen gleicht. Ausgehend von diesem Befund wird dann auch unmittelbar der Gestaltungswille des Autors deutlich. Der propositionale Gehalt dieses Einstiegs in den Roman lässt sich ja im Wesentlichen auf den Satz reduzieren: „In Tokio hat es geregnet wie schon lange nicht mehr.” Kracht hätte das also viel einfacher schreiben können. Er muss Gründe gehabt haben, das nicht zu tun.
Mit den Studierenden lässt sich besprechen, welche Folgen es für die Rezeption hat, dass Kracht diesen Anfangssatz so schreibt. Themen wie Ästhetisierung und Lesegenuss, Spiel mit Stilfiguren (Bsp. Alliteration / anaphorische Reihung: „kein Hut, kein Mantel, kein Kimono, keine Uniform”) werden diskutiert. Zentral ist hier die klanglich mimetische Nachbildung dessen, was inhaltlich auf Textebene transportiert wird – diese Perspektive ist für die Lernenden meist verblüffend.
3. Produktive Umwandlung
Studierende erkunden in einem nächsten Schritt, wodurch die Analogie zwischen propositionalem Gehalt „Es hat heftig geregnet” und dem akustischen Klangbild (bewusst synästhetisch formuliert!) hier zustande kommt. Wie gelingt es Kracht, das, was er sagen will, so zu sagen, dass ein Lautbild entsteht, das den Inhalt imitiert? Wie wird dieses Lautbild sprachlich und artikulatorisch erzeugt?
Die Untersuchungen am Sprachmaterial führen zum Befund, dass es die auffällige Häufung von stimmlosen Plosiven [p], [t] in Verbindung mit stimmhaften Plosiven [b], [d], stimmlosen postalveoloaren Frikativen [ʃ] und stimmhaften alveolaren Vibranten ([r]) ist, welche zum Effekt führt.
Die Studierenden erhalten nun die Aufgabe, einen Satz zu bilden, der (ungefähr!) denselben propositionalen Aussagewert enthält, aber im Deutschen nicht zum beobachteten Effekt führt. Es geht also darum, Krachts Formulierung derart umzuschreiben, dass in etwa dasselbe ausgesagt wird, aber artikulatorisch beim lauten Lesen kein Regengeräusch entsteht. Die Lernenden müssen sich dazu genau überlegen, welche synonymen oder wortfeldverwandten Begriffe des Deutschen aus Phonemen bestehen, die eben gerade keine Plosive, Frikative oder Vibranten sind. Auch wenn Studierenden häufig die linguistischen und insbesondere phonetischen Kategorien fehlen, lösen sie diese Aufgabe souverän, in dem sie einfach nach „weich klingenden” Wörtern suchen. Die Aufgabe führt auf Seite der Lerngruppe zu anspruchsvollem Ausprobieren, in dem viel implizites und explizites Sprachgefühl (hier v. a. phonologische Bewusstheit) aktiviert werden muss.
Es entstehen dann u. a. Sätze wie diese:
„Es regnete einmal mehr wie aus Eimern.”
„Morgens regnete es wie noch nie.”
Diese Sätze sind ist insgesamt vokalischer gestaltet und weisen auffällig viele stimmhafte Nasale auf ([m], [n]), die zu einem „weichen Effekt” führen.
In eine Sprachskulptur umgesetzt wird deutlich, dass der akustische Eindruck des heftigen Regengeräusches so nicht mehr in gleicher Weise gegeben ist:
Ergebnis
Lernende setzen sich anhand der Sprachskulptur erst entdeckend-erfahrend, dann produktiv-generisch auf kognitiv anspruchsvolle Weise mit einer sprachlichen Auszeichnungsmöglichkeit von Textstellen in einem zeitgenössischen literarischen Werk auseinander. Sie entwickeln eine für sie häufig neue Perspektive auf das Literarische, weg von einer rein inhaltlichen, immersiven Lektüre, hin zu einer Rezeptionsweise, die auch auf sprachformaler Ebene ein Genusserlebnis ermöglicht. Haben einzelne Studierende zu Beginn noch den Eindruck geäussert, ein solcher Romananfang würde sie abschrecken, wirke umständlich, altertümlich, manieriert (ist er ja durchaus auch) oder nicht adressat·innengerecht, so urteilen sie nach dieser Übung häufig differenzierter, indem sie den Gestaltungswillen des Autors und dessen Kompetenz im spielerischen Umgang mit dem Wortmaterial anerkennen.
Anbindung an Kompetenzstufen aus dem Lehrplan 21
Dass ähnliche Betrachtungen auch an Kinder- und Jugendliteratur im Lehrplan 21 für den Kompetenzbereich des literarischen Lernens möglich werden, zeige ich mit dem Verweis auf folgende Kompetenzstufen:


Es geht also auch schon auf Primarschulniveau darum, die Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren für sprachgestalterische Auszeichnungsformen in literarischen Texten. Die Lerneffekte lohnen sich dann eben nicht nur im Literaturunterricht: Weil auch metasprachliche Überlegungen angestellt und diskutiert werden und weil Sprachbewusstsein trainiert wird, können die Teilkompetenzen auch in anderen Sprachlernbereichen hilfreich werden.
Bibliographie
- Kracht, Christian. (2016). Die Toten. Köln: Kiepenheuer und Witsch.
- Lehrplan 21, Deutsch: https://fr.lehrplan.ch/index.php?code=b|1|11